Neuerdings ist das BGE, das Bedingungslose Grundeinkommen, in aller Munde. Dank Corona findet das Thema endlich die breite Aufmerksamkeit, die es meiner Meinung nach schon lange verdient. So war ich auch sehr neugierig, als ich Sahra Wagenknechts Kommentar dazu in der Frankfurter Rundschau anklickte. Die Lektüre war jedoch eine Enttäuschung. Zwar wusste ich schon vorher, dass sie dem BGE skeptisch gegenübersteht, aber diese Aneinanderreihung von Behauptungen ohne Argumente oder gar Belege hat nicht die Qualität, die ich sonst von Sahra Wagenknecht kenne. Daher habe ich einen ausführlichen Kommentar dazu verfasst. Leider hat ihn die Frankfurter Rundschau als „spam“ deklariert und bis heute nicht freigeschaltet. Dazu darf sich jeder seinen Teil denken … Hier könnt Ihr nachlesen, was ich geschrieben habe:
„So sehr ich Frau Wagenknechts Meinung in vielen Fragen schätze, so wenig kann ich ihre grundsätzliche Ablehnung eines BGEs verstehen. Der obige Beitrag arbeitet mit Unterstellungen und Behauptungen, die nicht belegt werden, weshalb er mich nicht überzeugt.
Frau Wagenknecht, Sie schreiben, dass ein BGE soziale Leistungen mit der Gießkanne an Menschen verteilt, die sie nicht brauchen, und deshalb nicht finanzierbar sei. Zur Frage der Finanzierung will ich hier nicht ins Detail gehen, weil es unterschiedliche Modelle mit unterschiedlichen Finanzierungsvarianten gibt. Der Tenor dieser Modelle ist aber, dass ein BGE prinzipiell machbar ist. Natürlich wird dabei vordergründig Geld an alle Menschen verteilt, auch an Millionäre. Aber ist es nicht auch Bestandteil einiger Finanzierungsmodelle, die erforderlichen Summen u. a. durch eine entsprechende Besteuerung von Vermögen und sehr hohen Einkommen zu erzielen? Dadurch wird diesen Vermögenden doch sehr viel mehr genommen, als ihnen zuvor durch das BGE gegeben wurde, also gleicht sich das mehr als wieder aus.
Einen zweiten Kritikpunkt sehen Sie beim unterschiedlichen Bedarf, der durch eine fixe Summe für alle nicht abgedeckt wäre. Dazu fallen mir spontan zwei Gegenargumente ein: Zum einen ist die von Ihnen geforderte auskömmliche Grundrente für alle doch ebenso einheitlich bemessen. Wo wäre dann der Unterschied? Zum anderen sehen auch viele Grundeinkommensbefürworter das Problem, dass z. B. ein Mensch mit Schwerbehinderung deutlich mehr Leistungen braucht. Was hindert uns also daran, das neue Gesellschaftsmodell von Anfang so auszugestalten, dass solche eindeutigen Fälle eigenen Regelungen unterliegen und nicht durchs Raster fallen?
Auch fordern Sie, die Politik nicht aus der Verantwortung zu entlassen, für Vollbeschäftigung zu sorgen. Ist das denn mit einem BGE zwingend der Fall? Die Politik wird jedenfalls Anreize dafür schaffen müssen, dass auch mit BGE noch alle Aufgaben erledigt werden, die für das Gemeinwohl erforderlich sind, und auch die materielle Basis einer BGE-Gesellschaft muss erwirtschaftet werden. Hinzu kommt, dass schon jetzt mehr als genug Arbeit vorhanden wäre. Es will bloß niemand dafür bezahlen. Stattdessen appelliert man an die Bereitschaft zum Ehrenamt oder schafft 1-Euro-Jobs, weil es Tätigkeiten sind, mit denen sich kein Profit erwirtschaften lässt.
Darüber hinaus sprechen Sie davon, die Unternehmer nicht aus der Pflicht zu entlassen, existenzsichernde Löhne zu zahlen. Nun ja. Dazu fühlen sich offenbar auch ohne BGE kaum noch Unternehmen verpflichtet. Anders sind die von Ihnen beklagten Niedriglöhne nicht zu erklären. Andersherum wird doch viel eher ein Schuh daraus: Das BGE wird Arbeitgeber dazu zwingen, für ungeliebte Tätigkeiten viel höhere Löhne zu zahlen, sonst wird sie niemand mehr ausüben, weil niemand mehr dazu gezwungen ist. Aus diesem Grund verstehe ich auch nicht, warum Sie behaupten, dass ein BGE den Niedriglohnsektor zementiert.
Warum Sozialversicherungen (Solo-)Selbständigen mehr helfen als ein BGE leuchtet mir ebenfalls nicht ein. Gerade geringverdienende Selbständige werden durch Sozialversicherungsbeiträge nur noch mehr belastet, wenn sie sich ohnehin schon gerade so über Wasser halten. Man nimmt ihnen noch mehr weg, während sie mit BGE Geld dazu bekämen. Da ist nun wirklich offensichtlich, dass das BGE mehr Sicherheit bietet und mehr Spielraum für neue Geschäftsideen lässt.
Völlig unbelegt ist auch Ihre Aussage, dass ein BGE der Gleichstellung von Frauen schade. Wie viele Frauen harren in dysfunktionalen Beziehungen aus, weil sie sich vor den finanziellen Folgen einer Trennung fürchten? Wie viele Frauen arbeiten aus familiären Gründen nur in Mini-Jobs oder Teilzeit und wären mit einem BGE deutlich besser gestellt? Wie viele Frauen entscheiden sich gegen ein Kind, weil ihr Arbeitsplatz unsicher oder zu gering entlohnt ist? So könnte man sicher noch eine Weile fortfahren, um zu belegen, wie viel unabhängiger und abgesicherter ein BGE gerade Frauen machen würde.
Sie warnen davor, dass ein BGE den Ausstieg aus dem Erwerbsleben subventioniere. Dabei haben Grundeinkommensexperimente längst gezeigt, dass die Menschen weiterhin arbeiten gehen und wollen. Ein paar Menschen werden sicher ihren Job kündigen, aber werden sie deshalb untätig sein? Ehrenamt, soziales Engagement und dergleichen mehr sind für die Gesellschaft mindestens ebenso wichtig wie Erwerbsarbeit. Diese Tätigkeiten würden endlich auch „entlohnt“. Ich setze das bewusst in Anführungszeichen, weil schon die Fixierung auf Entlohnung der falsche Ansatz ist. Damit sagt man indirekt aus, dass nur der eine Existenzberechtigung hat, der von der Gesellschaft für nützlich Befundenes ausübt. Das verträgt sich jedoch nicht mit dem Gedanken, dass alle Menschen (auch solche, die nicht zu einer Erwerbstätigkeit in der Lage sind) dasselbe Recht auf ein Leben in Würde haben.
Und wie realistisch ist die Hoffnung auf Vollbeschäftigung in Erwerbsarbeit überhaupt noch? Die rasant fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung werden so viele Arbeitsplätze überflüssig machen, dass wir noch lange nicht absehen können, ob genügend andere (bezahlte) Jobs nachkommen, die sie ersetzen.
Und einen letzten Aspekt berücksichtigen Sie überhaupt nicht: Auch in einem Sozialsystem ohne Hartz4-Sanktionen bleibt der Antragsteller immer ein Bittsteller, der sich den Zwängen der Bürokratie unterwerfen, sich rechtfertigen und seine Verhältnisse „entblößen“ muss, um Leistungen zu erhalten. Diese Zwänge werden immer Menschen mit Stolz und einem Gefühl für die eigene Würde davon abhalten, ihr gutes Recht wahrzunehmen. Und solche, die einen Antrag nicht einmal lesen, ausfüllen oder verstehen können, weil sie auf der Straße leben oder zu krank, zu ungebildet oder gar Analphabeten sind, erst recht. Das BGE löst – gut ausgestaltet – viel mehr Probleme, als es schafft.“
Da dieser Text von der FR nicht veröffentlicht wurde, habe ich ihn mit der Feedback-Funktion von Sahra Wagenknechts Newsletter noch einmal direkt an sie geschickt. Inklusive Mailadresse, falls sie darauf antworten möchte 😉 Eine Reaktion darauf kam bis heute nicht.
Wenn Ihr Euch intensiver mit dem BGE beschäftigen wollt, empfehle ich die Website des Netzwerks Grundeinkommen mit vielen weiterführenden Infos und einer umfangreichen Literaturliste.
Sehr schöner Artikel. Ich stimme deinen Ausführungen zu. Ich würde gern mehr zu den Studienergebnissen zum BGE lesen. hast du da etwas Literatur für mich?
Ich habe mir mal Gedanken gemacht, wie es wäre, wenn wir tatsächlich in der Utopie leben würden und wir tatsächlich nur noch das täten, worauf wir Lust haben.
https://uberlaufer.wordpress.com/2020/05/13/schritte-in-die-freiheit/
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Deine Ideen dazu werde ich demnächst mal lesen 🙂
Links zu einigen Studien findest Du z. B. in diesem Text hier: https://www.mein-grundeinkommen.de/magazin/pilotprojekte-kanada-kenia-finnland
In Deutschland ist erst jetzt eine erste große Studie geplant: https://www.mein-grundeinkommen.de/magazin/pilotprojekt
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Vielen Dank. Ja, ich hatte mich bei der Pilotstudie auch beworben, weil ich da mitmachen wollte. Generell findest auch auf meinem Blog eine Menge zu dem Thema BGE, weil ich es als wirksames Modell einer Sozialpolitik auf Augenhöhe finde.
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